1. THE ROLLING STONES – STREET FIGHTING MAN

Ich werde schreien und brüllen, ich werde den König töten und überall seine Diener schimpfen, denn es ist Zeit für eine Palastrevolution! So oder so ähnlich schrie es Mick Jagger ins Mikrofon; so oder so ähnlich beginnt der Soundtrack meines Lebens. 

Ich wurde 1953 geboren, der Vater ein alter Proletarier, die Mutter Hausfrau und ich ein sicher nicht einfaches, ein ganz sicher sogar ziemlich wildes Kind, mit dem vor allem der Alte so gar nicht klar kam. Aus lauter Verzweiflung verwammste er mich gern und regelmäßig mit einem alten, dicken Gummischlauch mit dem er einmal im JahrApfelwein abzog. Das eigentliche Problem war gar nicht ich, das eigentliche Problem war, dass es vor mir schon einen Jungen gab. Er war acht Jahre alt und starb etwa ein Jahr vor meiner Geburt an einer Blutvergiftung. Für meine Eltern tragisch, für mich letztlich einGlück, denn ohne seinen Tod hätte es mich gar nicht erst gegeben;sie wollten nur ein Kind, ich war Ersatz, eine Art Einwechselspieler und musste mir jeden Tag von dem Alten anhören, dass der Andere vielbesser drauf gewesen wäre als ich und das war natürlich scheiße.

Schuldig  gestempelt war ich schon vor meiner Geburt, denn meine Mutter traf der Verlust ihres ersten Sohnes besonders hart. Sie weinte viel, auch und gerade in der Schwangerschaft. So viel, dass die Leute ihr sagten, sie solle endlich aufhören das tote Kind zu bejammern. Fortan hielt sie also die Klappe und fraß den Rest in sich hinein. Der alte Preuße meinte später immer zu mir, er hätte so ein wildes Kind nicht verdient und ich dachte, dass all das wohl keiner von uns verdient hätte.

Das Elendige und Verrückte am Kindsein ist ja, dass man überhaupt keine Ahnung hat und seine Eltern in totaler Abhängigkeit liebt, ganz gleich, ob und wie wenig sie das auch verdient haben. Also dachte ich mit sechs, der Alte wäre komisch, aber wüsste alles. Spätestens mit zwölf wurde mir aber klar, dass er überhaupt gar keine Ahnung hatte.

Mein Vater war Zimmermann, lernte in Gotha auf der Fachwerkschule undspäter bei CarlZeiss. Als der Krieg kam, hatte er es zum Feuerwehrhauptmann bei der Freiwilligen Feuerwehr geschafft und wurde daher nicht eingezogen. In den letzten Kriegstagen 1945 hatte er über einen unterirdischen Gang vom Zeisswerk ins Volkshaus ziemlich viel, ziemlich wichtiges Zeug beiseite geschafft, damit es den Amis nicht in die Hände fiel; keine Kunst, sondern Baupläne und Entwicklungen und solchen Kram. Und als dann später die Russen kamen, wurde ein Direktor eingesetzt, den erschon kannte und der das nicht vergessen hatte. Die Nazis hatten ihneingesperrt. Der hatte meinen Vater dann als Bauingenieur mit einem Einzelvertrag bei Zeiss ausgestattet und so verdiente mein Vater entsprechend viel Geld, so viel, dass meine Mutter nicht arbeiten gehen musste und eine Menge Zeit hatte, um mich den ganzen Tag zubekochen. So sah ich dann auch aus, dick und rund.

Meine Mutter lernte als Kind Hauswirtschaftshilfe, hört sich heute vielleicht komisch an, war damals aber so, auch wenn man mit so einer Ausbildung schon ein bis zwei Jahrzehnte später nichts mehr anfangen konnte. In den 40er Jahren war sie in einem Fotozirkel, da ging sie viel wandern und machte Bilder aller Art, die sie mir später gernzeigte. Fortan war sie eigentlich immer Zuhause und übernahm den ausgleichenden Part zum Alten, auch wenn sie nicht in der Lage war, mich vor ihm zu beschützen.

Die Sache mit dem Gummischlauch hörte erst auf als ich mich eines Tages traute, mich zu wehren. Ich war 15 Jahre alt und meine Haare so gerade über die Ohren hinaus gewachsen. Meine Haare passten dem Alten überhaupt nicht und irgendwann kam er mit der Schere an und wollte etwas gegen seinen Unmut tun. Ich schubste ihn weg, zum allerersten Mal wehrte ich mich, das war die Befreiung, das zog und von da an ließ er mich endlich in Ruhe.

Gummschlauch

auch in der Schule hatte ich ganz schöne Probleme, war sehr dick, von den anderen größtenteils ausgeschlossen und wusste mir nicht anders zuhelfen, als den Klassenkasper zu spielen, was natürlich nur bedingt funktionierte und hier und da harte Konsequenzen nach sich zog. In der fünften oder sechsten Klasse entdeckte ich eine große Leidenschaft für Chemie und widmete mich dem Bombenbau. Es kam, wie es kommen musste: Die Bömbchen wurden immer größer und zu Silvester 1968 lief ich durch das Wohngebiet und eine Bombe ging zu früh hoch. Es hatte mir die Augen verätzt, so sehr, dass sie mir in der Augenklinik Krümel ausbohren mussten. Eisbaden sollte ich auch, wegen der verbrannten Haut, aber weil das derart kalt war, drehte ich das warme Wasser auf, was für bestenfalls mäßigen Therapieerfolgs orgte. Der Alte meinte, ich wäre dümmer als die Polizei erlaubt .Das weiß ich noch.. Wirklich gelernt hatte ich allerdings auch nicht aus der Sache. An der Berufsschule, beim UTP (Unterrichtstag in der Produktion) baute ich dann später mal ein Bömbchen, das ich extra auf einer Wiese zündete – trotzdem drückte es zwei Fenster in einiger Entfernung raus. Glücklicherweise konnte ich unerkannt flüchten.

1959 ist meine Mutter in Kunitz beim Äpfelplücken von der Leiter gefallen und hatte sich das Rückrad angebrochen. Immer wenn meine Mutter in einer Klinik lag, musste ich immer ins Kinderheim nach Bad Sulza, in diesem Fall für 6 Wochen. Da kam wie üblich der große Tatra vom Zeißdirektor Hugo Schrade und lieferte mich in Bad sulza ab.

Irgendwann bekam mein Alter dann sogar mal einen Brief von der Flora-Drogerie, mit der Bitte, dass ich dort keine Sachen mehr kaufen sollte, um daraus Bomben zu bauen. Später bastelte ich dann nur noch Qualmbomben, das machte auch Spaß.

Im Nachhinein betrachtet war das, bis auf den Alten und seine alles mit Gewalt unterdrückende Art, schon gar keine so schlechte Kindheit. Ich wurde auch musisch gefördert und spielte als Kind Geige, ungefähr sechs Jahre bei einem Privatlehrer. Mit 15 wollte ich dann nicht mehr, denn es gab damals noch keine Bands, bei denen einer mit Geige mitmachen durfte. Das kam erst im Laufe der 70er Jahre. Meine Mutter setzte durch, dass ich Gitarre lernen durfte; die Lehrerin wollte klassisch spielen, ich wollte Rock´n´Roll und so hab ich das Ding nach einem Vierteljahr in die Ecke geworfen und nie wieder angerührt.

Brief der Flora Drogerie wegen Chemikalien zum Bombenbau

Seit 71 Immer mit dabei war mein damaliger Freund Gerd Fritze der gleich um die Ecke wohnte und genauso gerne soff wie ich. Bei jeder Eggschen waren wir dabei, Zeissfest, Schottplatz etc.
Seit ich in Ilmenau lernte, sahen wir uns nur noch an den Wochenenden und als ich in Eisenberg lag gar nicht mehr, den Gerdi kam auf die blödsinnige Idee, 3 Jahre zur Armee gehen zu wollen. Das war sein Ende. Als er nach 3 Jahren wiederkam, verstand er die Welt nicht mehr. In der Zwischenzeit spielte ich in der JG eine Rolle, die Themen hatten sich geändert und Zeitsoldaten wurden misstrauisch beäugt und nieder Diskutiert. Gerdi verschwand für immer aus der JG, heiratete, die Frau lies sich scheiden und Gerdi brachte sich um. Ein weiterer Freund war der kleine Charlie, ein stiller angenehmer Typ, der brachte sich kurz nach Gerdi um.

Blase gehörte auch zu meinen engsten Freunden. Er wohnte bei seiner Mutter oberhalb des Melanchthonhauses. Seine Mutter war stamme Parteigenossin. An manchen Wochenenden war sie nicht da und ich übernachtete bei Blase. Wir kochten uns Spagetti mit Tomatenmark und hörten viel Soldatensender. Blase hatte einen jüngeren Bruder Ulli, der später auch in der JG auftauchte.
Blase ging nach Matz Tod nach Westberlin. 1987 hatte seine Mutter einen Herzinfarkt. Da sie Bonze war, durfte Blase sie tatsächlich in Jena besuchen. An einem Nachmittag klingelte es, Petra öffnete und brach in Jubel aus. Blase stand vor der Tür. Er hatte die Auflage, niemanden zu besuchen. Da er seinen Bruder Ulli ausgetrixt hatte, hat die Stasi nicht mitbekommen, dass er uns besucht hat. Blase wollte seinen Bruder nicht in Schwierigkeiten bringen, uns natürlich auch nicht. 1991 brach er den Kontakt zu Ulli ab, nachdem die Akteneinsicht feststelle, das Ulli IM war und auch schon in der JG gespitzelt hat.

Lothar Seitz war auch ein Freund, der von den linken DDR Stasi- Faschos in den Tod getrieben wurde. War regelmäßig in der JG und bei Werkstätten war er 2 Jahre lang der Brater vom Dienst. Irgendwann wurde er zur Asche eingezogen und kam sehr deprimiert wieder. Freundin war weg und er zog in Jena-Ost in eine kleine Wohnung. Irgendwann wurde er wegen Arbeitsbummelei verurteilt, saß 1 Jahr im Knast und musste sich einmal in der Woche bei der Bullerei melden. Irgendwann war der zuständige ABV der Meinung, er muss ihn ärgern und verbot ihm, Besuch zu empfangen. Er beschimpfte den ABV als Kommunistenschwein und kam wieder in den Knast.
Als er wieder rauswar, haute er nach Erfurt ab und wohnte in einer WG, wo regelmäßig Nachts Bullen auftauchten und Ausweiskontrollen machten. Lothar war in der Zwischenzeit Fensterputzer und arbeitete von 6 bis 15 Uhr. Die nächtlichen Störungen spielten ihn so kaputt dass er irgendwann einem der Bullen in die Schnauze schlug, was ihm wieder Knast einbrachte. Danach bekam er eine Arbeitsplatzbindung in einem Kaff bei Erfurt, durfte das Kaff nicht verlassen und drehte ein Jahr später den Gashahn auf.

1972 musste ich  dann eine ganze lange Zeit ins Krankenhaus, um mir die X-Beine richten zu lassen. Erst 1973, nach einer Ewigkeit im Bettgips, durfte ich wieder raus und musste anschließend noch einmal über ein Jahr Gehgips tragen, der ständig kaputt ging, weil er mich nervte und mir ziemlich viel ziemlich scheißegal war in dieser Zeit. Aber das Dilemma hatte auch sein Gutes, denn in der langen Genesungsphase bekam ich Invalidenrente und musste genau in diesen Tagen als Rentner zur Musterung. Ging schnell: Ein Arzt sagte zum anderen, dass das eh nichts mehr werden würde mit mir und meinem Bein und so wurde ich kurzerhand ausgemustert – Gott sei Dank! Den dazugehörigen Invalidenausweis habe ich übrigens noch und auch wenn er nichts mehrwert ist, benutze ich ihn manchmal, wenn man irgendwo schlecht parken kann; der ist ja unbefristet.

Ich hatte das Glück, auf einer Raucher-Station zu landen, auch wenn es in der DDR fast keine Rechte gab, das Recht der Raucher wurde toleriert. Der Krankenhausflur war ein paar hundert Meter lang. Die Stationen kamen alle ca. 60 Meter und auf diesem Gang veranstalten ein paar Karretel Fahrer Wettrennen, bis es mich in einer Kurve umhaute, der Gips brach und der Professor stellte fest, dass mein Unterschenkel wie ein Lämmerschwanz klapperte, worauf ich dann knapp 2 Jahre den Gehgips mit mir herumschleppte. Ich fuhr täglich in den Konsum einkaufen, brachte auch anderen Zimmern etwas mit und bald gab es eine Skat-Gruppe. Wir spielten um die Zehntel, das Geld kam in eine Kasse und wenn genug drin war, gab es Glühwein, den wir uns in der Küche zubereiten. Manchmal fuhr ich auch mit dem Karretel in den Wald und suchte Pilze. Auch die bereitete ich am Abend, wenn nur noch eine Nachtschwester da war, in der Stationsküche zu und verteilte. Die Station war das Abstellgleis, wo Leute sehr lange liegen mussten. Die Patienten mit Knochen TBC lagen i.d.R. 1 bis 2 Jahre und die freuten sich über Pilze und Glühwein, gerade im Winter, wo es höchstens 14 Grad Zimmertemperatur gab. Die einzige Umwälzpumpe lag in der Mitte auf der Professoren Station. Meine Station war die Letzte in der Reihe. 

Irgendwann nach dem Krankenhaus lernte ich ein Mädchen kennen und weil mich der Alte so nervte, zog ich zu ihr nach Jena-Ost. 1974 rief mich dann meine Mutter an, ich sollte schnell vorbeikommen. Der Alte hatte auf dem Dach Essenköpfe abgebaut und dabei einen Herzinfarkt bekommen. Oben lugte er tot aus dem Fenster, während der Rest von ihm auf dem Dachboden auf der Leiter stand. War nicht sein erster Herzinfarkt, aber sein letzter.

Um ganz ehrlich zu sein, war ich ziemlich froh darüber. Meine Mutter hatte immer versucht, seine Härte glattzubügeln, Sie war auch sehr mütterlich, konnte aber bestimmte Zusammenhänge einfach nicht verstehen und mich nicht vor ihm beschützen. Heute, ein halbes Jahrhundert später, betrachte ich es dennoch als großen Wert, dass ich immer das Gefühl bekam, nach Hause kommen zu können. Schlecht war sie also nicht, meine Kindheit. Ich durfte schreien, ich durfte brüllen und über den König und all seine Diener schimpfen. Es war nur eben irgendwann an der Zeit für eine Palastrevolution.